22. Mai 2013

Gran Fondo Nove Colli 2013 - mein Rennbericht.

Es ist, als habe sich Thor höchstpersönlich aus Walhalla aufgemacht, um uns hier, in der italienischen Emilia Romagna zwischen Cesenatico und San Marino die Hölle heiß zu machen: Es zieht sich schlagartig der Himmel über uns zusammen, es grollt fernab, es wird so dunkel, dass ich fast meine Sonnenbrille abnehmen muss. Erste Tropfen kündigen kalten Regen an. Na hossa! Willkommen beim Gran Fondo Nove Colli.


Aber immer alles schön der Reihe nach - denn als es anfängt zu regnen, bin ich schon fast 80 Kilometer auf der Strecke. Der Tag aber beginnt viel früher ...

Chaos-Anreise und die italienische Frühstücksfalle.

Wir - Flow und ich, die wir wieder für das Radsport-Team SunClass Solarmodule fahren - kommen am Vorabend erst 24:00 Uhr ins Bett. Die Anreise gestaltet sich schon bei den Flügen eher hinderlich. Wir müssen mit umsteigen via Frankfurt wieder nach Venedig fliegen, von da wieder mit Mietwagen. 17:40 Uhr Landung, 18:30 Uhr Mietwagen-Go, 20:37 Uhr in Cesenatico.

Da hat die Startnummern-Abholung schon 40 Minuten geschlossen. Wir versuchen es trotzdem und finden eine gutgelaunte Crew beim Pizzaessen. Ein älterer Herr ist so lieb und gibt uns die Starterpakete: Phuuh! Ansonsten wäre die Nachmeldung um 5:00 Uhr offen gewesen. Aufstehen? 4:00 Uhr. Frühstück? No chance ...

So aber sind wir überfroh, doch noch unsere Pakete zu bekommen. Also nicht so früh aufstehen ...


Im Hotel dann aber die Überraschung: Die Startzeit des Gran Fondo Nove Colli ist mit 6:00 Uhr dermaßen früh, dass unser Hotel extra das Frühstück schon 4:30 Uhr anbietet.

Als nun doch um 4:20 Uhr mein Wecker klingelt, nach 12 Stunden Anreisestress fast ohne Schlaf, dank einer nahe gelegenen Disco, deren DJ lautstarke Kommentare in die nächtliche Adria brüllen konnte, fühlt es sich an, als trete mich ein Pferd. Als Flow ans Büfett stolpert, sieht er einem Zombie ähnlicher, als einem Radsportler, der nun eine 205 Kilometer lange Berg-und-Tal-Fahrt vor sich hat.

Schlimmer noch: Italienisches Frühstück ist weit davon entfernt, einem Rennradler das zu geben, was er braucht. Bananen? Fehlanzeige.Trockenes Müsli, Salami, Kochschinken und sonst der übliche Süßkram. That´s it.

Ich fühle mich ... nicht wirklich gut.


Besser wird es dann aber im Startblock. Wir trudeln pünktlich 5:45 Uhr im Block "rosa" ein und können etwa im hinteren Drittel unsere Plätze einnehmen. Vor uns werden 4 Blöcke starten, hinter uns weitere 2. Beim Gran Fondo Nove Colli nehmen 12.000 Radsportler teil. Wahnsinn.

Die halbe Stadt steht voller Rennräder. Als 6:00 Uhr irgendwo der Startschuss fällt, merken wir das gar nicht. Erst eine knappe halbe Stunde später beginnen sie ganz vorn bei uns, ihre Pedale einzuklicken - ah, es geht los!


Verflogen auf einmal der Stress der Anreise.
Wie weg geblasen der graue Hirnschleier, die schlafmangelbedingte Amnesie.

Als ich langsam losrolle merke ich erst, wie frisch es hier draußen ist. Wie herrlich die Luft duftet, wie rosig meine Backen sind. Gänsehaut auf den frisch rasierten Waden, als erster Fahrtwind sie beginnt zu kühlen.

Aufprall in die Colli - Warpflug in den Appennin

Wie immer ist das Tempo anfangs recht hoch - da das Feld allerdings so überaus groß ist, kommen wir nicht wirklich an unsere Grenzen. Die ersten 28 Kilometer ab Cesenatico über Cesena bis Forlimpopoli (mein liebster Ortsname in Italien bisher) bestreiten wir im schnellen Feld bei 37 bis 42 km/h im Schnitt - es rollt sich herrlich.

Immer wieder überhole ich andere Fahrer, hänge mich an Gruppen ran, die die oftmals 100 bis 200 Meter großen Löcher bis zu den größeren Gruppen stopfen, ruhe mich kurz aus, dann wieder Vollgas. Herzschlag um die 160 bpm im Schnitt - so muss das sein.

Flow will "piano" machen, setzt sich aber recht früh wieder ab. Ich lasse ihn ziehen, wundere mich aber, als ich ihn am ersten Anstieg nur wenige Meter vor mir sehe und einholen kann.


Im ersten Anstieg, hinauf nach Polenta, erlebe ich dann etwas, was ich so noch nie hatte: Rennrad-Stau.

Wie im japanischen ÖPNV

Dicht an dicht drängeln sich die Rennradfahrer, es ist so voll, dass man nur auf der Grasspur neben dem Asphalt überholen kann. Nicht selten sehe ich haarsträubende Beinahe-Crashs, ständig rufen ganze Chöre von Schnelleren ihr "Occhio!" - was so viel heißt wie "Schau hin!" oder "Mach Platz!" - nur: Wohin Platz machen?


Ich muss bremsen - im Anstieg! Ich könnte, 10, 11, 12 km/h gehen (noch ist es nicht sonderlich steil), aber die schiere Masse an Rennradlern, die meist sehr viel langsamer fährt, bremst uns ein, reduziert uns auf einen bunten Brei dahineiernder Beinrasierter.

Irgendwie schaffe ich es dann doch, mich nach vorn und oben zu Flow durchzudrängeln und brülle ihm ein "OCCHIO!" ins Ohr. Nur so zum Spaß. Dann fahren wir zusammen.

Der erste Anstieg wird 11 Kilometer lang sein. Ein Schmankerl zum Wachwerden.


Noch habe ich die Hoffnung, dass sich das Feld etwas entzerrt, aber auch nach einer halben Stunde Klettern ist es nicht wirklich entspannter geworden: Zwar kann ich mit einigen gezielten Sprints und harten Antritten einige Male ein paar Dutzend Mitstreiter überholen - wirklich leerer wird es vorn aber allerdings auch nicht.

Mal kann ich mich von Flow absetzen, mal erkennt er die besseren Wege durchs Rennrad-Tetris dieses ersten Berges und brettert mir davon.


Ab und zu zeigt der Nove Colli aber auch, wer hier die wahren Stars sind: Die Rampen. So, wie schon der kürzere und über 1.000 Höhenmeter weniger messende Gran Fondo Dieci Colli eindrucksvoll bewiesen hat: Die Emilia Romagna ist voller steiler, harter Steigungen! Nicht selten klettern die Digits meines Garmin in den zweistelligen Bereich, gern warten 12, 13 und 14% Gradient auf das Feld, dann staut es sich, dann gehen wir aus dem Sattel, dann brüllen sie wieder zigfach ihr "Occhio!" in die Senkrechte.


Es fährt sich super. Überraschend super. Nicht nur, dass ich mich angesichts der weniger als 4 Stunden Schlaf, der extrem anstrengenden Anreise und dem quasi non-existenten Frühstück ausgesprochen unvorbereitet gefühlt habe, beim Zusammenbau am Abend ist mir noch ein Fehler am Umwerfer aufgefallen ...

Mechaniker? Oder nicht?

Ich berichte Flow, dass ich (wahrscheinlich beim Transport verzogen) nicht mehr aufs kleine Blatt schalten kann. Just bei dieser Reise haben weder er noch ich den passenden Schraubenzieher dabei. Kurz bevor ich mich entschließe, beim Frühstück in die Runde der Rennradler zu fragen, klingelt mein Zimmertelefon: "Ich habe einen Mechaniker, der ist grad bei mir - den schicke ich Dir gleich!", verspricht mein Teamkollege. Ah, genial, ein Mechaniker einer der Teams, die hier bei uns im Hotel sind. Wie cool!

Dann klopft es. Seinen Namen verstehe ich nicht. Bollerhose, Pornobärtchen, sehr freundlich, kein Wort Englisch - aber einen ausgewachsenen Werkzeugkoffer dabei. Ich bitte ihn herein, deute auf mein Rennrad und der macht sich auch gleich flink ans Werk.

Bis ich merke, dass er gar kein Rennrad-Mechaniker ist, sondern der Hotelhausmeister, den Flow nur gerufen hatte, weil sein Zimmerventilator ausgefallen war, hat der mir zwei Bowdenzüge lose geschraubt und setzt nun an, irgendwelche Stellschrauben zu lösen. Schweiß steht auf seiner Stirn. Oh Backe! Stopp!

Endlich schreite ich ein - bin aber auch nur mäßig gut im Schrauben und kann daher die Schaltung mehr schlecht als recht wieder einstellen.

"Mechaniker", sage ich zu Flow im Anstieg, "ich dachte, der wäre Mechaniker eines Teams!"


So fahre ich nun also mit einem unangenehmen Schleifen in den höchsten Gängen. Aber wenigstens auf zwei Blättern.

Losing Flow - getting my own one

Wir schnacken nebenher, richtig außer Puste geraten wir in diesem ersten Anstieg nicht. Ich schaue zur Seite, wann immer es geht, wann immer die Enge im Feld es zulässt. Richtig glücklich bin ich in diesem Rennen noch nicht, ich könnte schneller ...


Als nach der Abfahrt nach Fratta und Meldola geht, habe ich Flow wieder verloren - ich musste mich konzentrieren, denn in diesem dichten Feld die dann doch oftmals sehr engen Straßen (Schlaglochalarm!) hinunterzupoltern erfordert viel Aufmerksamkeit. Und da mir die richtig schnellen Jungs links viel zu krass fuhren, lasse ich es erstmal locker angehen.

Dennoch: Wir fahren in den zweiten Berg hoch nach Pieve di Rivoschio, als ich vor mir schnell wieder das Solartrikot auftauchen sehe. Langsam kann ich mich ranarbeiten, wieder das obligate "OCHIO!" in die Seite gebrüllt, kurz gegrinst und dann ziehe ich weiter.

Doch das Lachen wird mir gleich vergehen.


Der zweite Anstieg ist mit 11 Kilometern, einer kleinen Zwischenabfahrt und einem Endanstieg von 1,5 Kilometern nicht nur länger als der erste, sondern verleitet durch seine etwas geringere Steilheit noch dazu zum Heizen.

Angestachelt durch unsere nicht ganz so ernst gemeinte Team-Konkurrenz gebe ich jetzt richtig Gas und arbeite mich nach oben. Mit 14 bis 16 km/h kann ich diesen Berg sehr schnell erklimmen und dabei noch viele Andere überholen. Doch das alles hat seinen Preis: Schnell knurrt der Magen lauter als das Campa-Knarren neben mir, ich drücke mir zwei Gels und einen Riegel rein - hoffe auf die erste Verpflegungsstation.


Mit 14 Grad ist noch immer recht frisch, noch fahre ich lang-kurz, werde aber oben im Anstieg die Jacke schnell ausziehen: Ich schwitze! Schwer atmend gehe ich die besagte kurze Zwischenabfahrt, dann in das Endstück hinauf zum Gipfel.

Das Feld hat es hier, bei Rennkilometer 65, noch immer nicht wirklich auseinander gezogen. Wahnsinn, was hier alles am Start ist!


Die Abfahrt von diesem zweiten der neun Colli genieße ich: Sie ist mit durchschnittlich 56 km/h schneller als die Erste. Nicht wirklich schnell, allerdings angesichts der kurzen Rampen auch beachtlich: Zwischen den Haarnadelkurven und Bremspunkten liegen oft nur wenige, 100, 200 Meter, dann geht es runter auf 20, dann wieder Vollgas.

Ich habe meinen eigene Flow gefunden.

Weltuntergangsstimmung

Der Wind wird merklich stärker, was mich bei Abfahrten immer besonders ärgert, wenn er von vorn kommt, beraubt er mich so doch der Früchte meiner Aufstiegsarbeit. Ich komme unvermittelt in der Abfahrt in eine Rechtskurve. Ein Helfer schwingt eine neonrote Flagge, ein Schild warnt vor einer gefährlichen Kurve. Tatsächlich: Plötzlich taucht unter mir die Straße weg, ich werde sehr schnell, dann eine Rechtskurve, noch einmal abtauchen, dann macht die Kurve zu - und vor mit Blaulicht Sanitäter, sie ziehen einen Gestürzten hinter der Leitplanke hervor. Ach Du Scheiße! Ich bremse von jetzt an einen Tick früher ...

Kaum erreiche ich Grund, passieren wir ein Dorf, biegen ab - ein Schild kündet vom dritten Berg. Bis hier hin bin ich 2:16 Stunden unterwegs.


Der Anstieg wird hart. Über uns zieht der Himmel zu, dicke, schwarze Wolken wallen über die Gipfel, der Wind wir ruppiger, zerrt an meiner Jacke, die ich mir wieder überstreife, Böen lassen mich am Abhang schräg fahren - Helm ab zum Gebet, wer jetzt mit Hochprofillaufrädern in die Abfahrten geht!

Es wird so dunkel, dass ich durch meine Sonnenbrille kaum noch etwas erkenne. Mein Magen knurrt nun auch wieder. Und dann beginnt der Regen.


Schon prasseln kalte Tropen auf meinen Helm. Das Klopfkonzert konterkariert das Surren der Freiläufe. Zunächst noch im Endstück der Abfahrt, dann im Anstieg zum dritten Berg. Anfangs mag ich es sogar: Es kühlt meinen heißen Körper angenehm herunter, ich lecke mir das frische Regenwasser von den Lippen, es duftet herrlich, dazu das Vogelgezwitscher. Es könnte so schön sein ...

Doch dieser dritte Anstieg, diesmal 700 Höhenmeter auf 7 Kilometer, ist wieder ein steiler Bursche. Ich nehme etwas Ambition und Tempo raus, lasse es ruhiger angehen: Hallo? Berg 3 von 9 und da kann ich mich doch nicht leer fahren! Ich flüchte mich in Gedanken aus dem zitternden Hier und Jetzt und überschlage Entfernungen (noch 130 km to go - au Backe!), stelle mir vor, wie ich dann im Hotelzimmer duschen werde (lange und seeeehr heiß!) und versuche, irgendwo Sonne zu erhaschen.

Doch alles nur grau in grau. Irgendwo hinten grummelt es. Gewitter?

Oben auf dem Gipfel dann die lang ersehnte Verpflegung. Endlich. Ich springe ab, fülle die erste leere Wasserflasche, verspeise hastig Blutorangenviertel (lecker!), Piadine mit Salami (oh la la!) und Stopfe mir 4 Bananenhälften ins Trikot, 4 Müsliriegel in die Hosenbeine, schwinge mich aufs Rad. Das esse ich im fahren.

Kurze Abfahrt - kurzer Anstieg folgen - als ich oben bin, klart es plötzlich es von einer Sekunde auf die andere auf. Sonne.


Ein herrlicher Ausblick ist das hier - wunderbar! So vieles hat dieser wunderschöne Landstrich zu bieten - das Meer, leckeres Essen (Fisch, Muscheln ...), dann das Hinterland, Berge, Wein. Ein Traum, diese Emilia Romagna.

Die Abfahrt genieße ich: Wärmende Sonne, schnell habe ich das Langarmtrikot abgeschraubt, während ich bei Mercato Saraceno in den vierten Berg fahre: 10 Kilometer, für die ich 37 Minuten brauchen werde.

Hitzeschlacht

Im Anstieg des fünften und sechsten Berges - hinauf zum Monte Tiffi und nach Perticara - wird die Temperatur innerhalb einer Stunde um 15 Grad steigen.


Es ist eine Erwärmung, die mir den Schweiß nur so aus den Poren treibt. Sauna-Feeling am Monte Tiffi. Es flirren Wahnbilder der rosa Sesamstraßenbewohnerin vor meinem Auge, als ich mich die bis zu 15% steilen Rampen emporschraube. Das Kurzarmtrikot ist längst schon offen, eine Flasche schon geleert, die zweite hängt alle 5 Minuten an meinen Lippen.

Langsam kommt die Müdigkeit.

Am Monte Tiffi wird ein Schild stehen.
"Arrivo a 100 km" - steht da.
"Ach, leckt mich doch am Arsch!", denke ich.


Und dann besehe ich mir wieder meine Mitstreiter: Radhelden sind wir, allesamt. Wir schaffen zwar keinen 35er-Schnitt, wie ihn der Sieger dieses Rennens einfahren wird, aber wir stehen hier über 200 Kilometer unseren Mann. Und unsere Frau. Wir haben Träume, wir leben sie. Wir leiden, wir kämpfen, wir mühen und bemühen uns - und wir alle siegen. Auf unsere Weise.

Nee, leckt mich nicht am Arsch - gut so, wie Ihr das hier macht. Wunderbar, ein tolles Rennen! Ab und zu kommen wir an Bauernhöfen vorbei, wo sie sitzen und jubeln. Dann und wann haben Sie Musikbeschallung in die Anstiege gestellt, jubeln uns zu als seinen wir das Giro d´Italia-Peloton höchstpersönlich. Es ist wunderbar, diesen Rennrad-Sport betreiben zu können.
Auch und gerade jetzt.

Auf dem Monte Tiffi - bei Kilometer 110 - lockt eine weitere "Ristoro". Ich lasse mich einladen.



Auf die ordentliche Portion Maccheronchini, die von Dorfmatronen mit geübtem Schwung in die Teller gekellnert wird, streue ich mir ein gefühltes Kilo Parmesan, hocke mich neben mein Cervélo und stopfe mir die Kohlenhydrate in den Mund. Neben mir lieben zwei Blutorangen in Vierteln, dazu gibt es becherweise "Sali" und dann noch eine Banane.

Bei italienischen Gran Fondos muss keiner hungern.

Später werde ich noch an einer Grillstation vorbeikommen: Dort schenken sie dann noch Wein aus. Viele der Dörfer haben tolle Laben aufgebaut, herzlich begrüßen sie die Fahrer, herzlich bedanken wir uns.


Der Anstieg zum sechsten Gipfel, nach Perticara, ist dann wieder Einzelkampf im Feld der Wahnsinnigen.

Laktat in den Beinen

Langsam machen sich die Anstrengungen bemerkbar: Übersäuerung in den Muskeln. Zwar achte ich darauf, nicht allzu oft in meinen roten Bereich zu fahren (was ich auch schaffe), aber gerade in den Steilstücken bleiben kurze, harte Antritte im Stehen nicht aus. Unvermeidbar, dass hier die Körner nur so wegbrennen.


Umso erstaunlicher der Bergservice eines Moped-Fahrers, der vor mir einen Typen das 13% steile Stück durch den Wald schiebt, ihn oben fahren lässt, herunter fährt und sich den nächsten schnappt. Zum Ende des Rennens werde ich das selbe Moped sehen, wie es eine Dame im Windschatten - mich überholend - an eine Gruppe ranfährt, an die ich aus eigener Kraft nicht mehr Anschluss finden werde.

Über diesen "Teamservice" lässt sich trefflich streiten.

Ich genieße die Umgebung, jetzt geht das: Die Feldertrennung ist erfolgt und nachdem in den Ergebnislisten von den 12.000 Teilnehmern nur noch 3.748 für die lange Strecke finishen, werden hier also knapp 8.200 Rennrad-Tifos abgebogen sein.

Nun haben wir den Appennin für uns allein.
Und jetzt kommen auch die Schmankerl ...


Der siebente der Berge hinauf nach Monte Pugliano via San Leo (das ich schon einmal mit den Rimini Bike Hotels befahren habe, Bericht hier) wird der für mich schwerste sein.

Das Brutalste zum Schluss

Nicht nur, dass mein durch die Hitze zermartertes Gehirn nicht mehr imstande zu sein scheint, von 205 End-Kilometern den momentanen, im Garmin angezeigten Stand zu subtrahieren, ich merke, wie ich immer mehr Kraft in den Beinen verliere (und dadurch gezwungen bin, viel langsamer zu klettern) und auch die Konzentration nachlässt.


Auf der Abfahrt vom sechsten Berg komme ich beim Anbremsen in eine Rechtskurve anscheinend durch einen kleinen Kiesel ins Rutschen. Heftig bricht mir bei 40, 50 km/h das Hinterrad aus. Es sind nur die Rotationskräfte meiner Laufräder, die das Rad wieder stabilisieren. Der Schreck fährt mir in alle Glieder.

Wieder im Anstieg freue ich mich wieder über die Infotafeln der Nove Colli-Orga: Vor jedem Berg haben sie ein Schild aufgestellt, das die Nummer, den Namen, die Länge, die Durchschnittssteigung und die Max-Steigung preisgibt.

Beim Siebenten steht da "... Dislivello 7,irgendwas %, Pendenza massima 18%".
Ach schön.


Der Berg selbst fährt sich unten nur so weg: Durch meine Waseberg-Einsätze, bei denen ich 10 bis 16 mal die 800 Meter bei 15% hier in Hamburg repetiere, gewöhne ich mich an diese Steigung, sodass ich 5, 6, 7% gar nicht mehr merke. Selbst 9 oder 10% stecke ich locker weg.

Und so kann ich die unteren zwei Drittel dieses Anstieges wie Butter wegfahren.



Spaßig wird es dann weiter oben: Hier folgen etwas über 2 Kilometer, die sich komplett und ohne Unterbrechung bei 12% Steigung bewegen. Hier hängen den Leuten die Lungenflügel aus den Trikots ... und dann, als wenn das nicht reicht, die letzten 100, 200 Meter die angekündigten 18%.

Das hat Spaß gemacht ...


Die Abfahrt entschädigt - teilweise. Ich muss sie allein fahren, denn der Gegenwind ist dermaßen heftig, dass es mir zu sehr am Rennrad zerrt. Mögen sich die anderen (wohl auch schwereren Leute) hier gern mit 80 Sachen herunterstürzen, mir machen die Böen auch bei 60 schon zu schaffen und nach meinem Quersteher möchte ich hier heute nicht noch einen echten Abflug riskieren.

An San Leo - yeah, hier bin ich echt lang gefahren!, freue ich mich - vorbei schießen wir lang ins Tal, um dann den Rubicon zu überqueren. Der achte Berg steht an. Und dann nur noch einer ...


Dieser Berg ist klein. Aber oho. Zwar nur 4 Kilometer lang - aber immerhin stecken jetzt schon über 3.000 Höhenmeter und fast 152 Kilometer in meinen Beinen. Viel Verkehr ist hier nicht mehr. Die Fahrer, denen ich begegne, sammeln sich zu kleineren Gruppen, dann kommt oft einige Minuten lang gar nichts mehr.

Wo Flow wohl steckt?

Immer wieder fahre ich im Anstieg mit "meinen" Leuten - eine Gruppe von immer gleichen Fahrern, die ich im Anstieg einhole, die mir auf Abfahrten aber davon fahren können. Oft überhole ich sie, sichere mir die Bergpunkte, aber dann ziehen sie in den Abfahrten an mir vorbei. Mir recht: So kann ich alleine die rasanten Serpentinengeschlängen genießen und muss nicht noch auf Mitfahrer achten.

Der achte Berg - Gorolo genannt - endet so abrupt, wie er beginnt. Ich habe keine spezifischen Erinnerungen mehr an ihn. Als ich in den neunten Berg gehe, übermannt mich plötzlich eine Welle Endorfin.


Der Anstieg ist ebenfalls kaum schwierig. Einige harte Rampen, der Rest hohen einstelligen Bereich. Die Beine zittern mittlerweile, der Nacken schmerzt und ich muss 20, 25% meiner Tritte im Stehen absolvieren, denn die Sitzbeschwerden nehmen zu.

Bei Kilometer 177 habe ich es geschafft: 7:30 Stunden plus ein 15 Minuten Pause sitze ich nun schon im Sattel. 3.805 Höhenmeter hat das Garmin gesammelt. Ich muss grinsen, rechne, der Einfachheit halber mit 200 Kilometern - nur noch ... wie Bitte? ... nur noch 23 Kilometer?

Nur noch 23 Kilometer. Geil!

Endspurt ins Ziel

Die "Abfahrt" vom neunten Berg ist ein Auf und Ab, das sich über 8 Kilometer hinzieht: Wir fahren auf einem Bergkamm, zwar stetig bergab, aber immer wieder mit kleinen Rampen, 5 bis 8% steil, die wir zwischendrin erklimmen müssen. Die trete ich mit dem großen Blatt weg.

Dann die letzte Abfahrt - hinten blitzert das Meer - und dann bin ich unten. Nun "nur" noch im Flachen zurück nach Cesenatico. Ich haue rein.


Allein bin ich auf weiter Flur. Es geht noch immer mit 2 bis 3% Gefälle nach unten, der Wind komfortabel von hinten rechts: Es rollt sich spitze. Zunächst versuche ich, einen vor mir Fahrenden einzuholen, breche dann aber bei 45 km/h ab. Ist ja kein Zeitfahren hier.

Konstant und ohne allzu große Mühe kann ich 42 bis 38 km/h im Schnitt halten, ziehe das einige Kilometer durch, als dann endlich von hinten eine 4 Mann starke Gruppe mich überholt. Da hänge ich mich ran.


Vorne ziehen zwei, ich an vierter Position. Das Tempo geht auf 45 km/h hoch, später, als es eben wird und wir in kompletten Seitenwind drehen, pendeln wir uns bei 35 km/h ein. Bevor ich (davor hatte ich aber sowas von Bammel!) durch Positionswechsel führen muss, überholt und eine 10 Mann starke Gruppe, an die wir uns koppeln.

Die sind aber verrückt.


Mit bis zu 50 km/h ballern die nach 195 Kilometern Richtung Adria. Unglaublich! Mir läuft die Sabber aus dem offenen Maul, ich schaufle den Sauerstoff nur so literweise durch die Luftröhre, das die Bläschen klappern, halte auch die Speed, aber unten tropft mir das Laktat bereits in die Schuhe ... oh backe, das wird eng.

Dann reißt es vorne ab, als wir für 3 Kilometer in den Wind müssen. Sie fahren weg. Ich bin mit meinen drei Herren alleine. Die letzten 2 Kilometer sind wie ein Traum. Vor dem Ziel brechen beide ein, ich strampel allein weiter.

Treibende Beats hämmern mich die Zielgerade entlang. Haben die hier alle Zielbögen der gesamten Adria aufgestellt? Sie jubeln, einer plappert durch die Boxen, ich kann nicht mehr, noch 500 Meter. Noch 200. Ich klappe gleich zusammen. Noch 100. Jetzt aufhören, hör doch auf zu treten.
Dann die Ziellinie. Dann bremsen. Ausklicken.

Zweihundertundfünf Kilometer. Alter Verwalter.


Eine Schönheit hängt mir eine Medaille um. Mein Körper gibt den Transponder zurück. Die Pastaparty nehme ich nur als wildes Gewusel wahr. Weg hier.

Als mir dann Deziliter heißes Duschwasser den Staub von den Waden spülen, ich dampfend auf meinem Balkon stehe und wenig später in einen einstündigen Tiefschlaf ins Bett falle, muss ich kurz ganz wild lachen: Ich denke an den Pornobart-Hausmeister, die losen Bowdenzüge und seinen ratlosen Blick: "Ich habe einen Mechaniker bei mir ... den schicke ich Dir gleich ..."

Flow wird 20 Minuten nach mir ins Ziel kommen. Auch er wird sagen, dass dieser Gran Fondo Nove Colli ein sehr sehr hartes, aber auch ein sehr sehr schönes Rennen war.


Hier sind meine Garmin-Daten vom Gran Fondo Nove Colli.

8 Kommentare:

  1. Moin Lars,
    das rollt ja immer besser. Schön geschrieben und wieder tolle Bilder. Wie bist Du eigentlich mit dem Garmin zufrieden? Ich bin immer noch auf der Suche nach einer vernünftigen Zwitterlösung aus Radcomputer und GPS.

    Beste Grüße und weiterhin viel Erfolg

    Klaus

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    1. hi klaus,
      lieben dank, yo, das läuft wie am schnürchen :-)
      das edge 800 ist das perfekte gerät, kann ich nur empfehlen - uneingeschränkt!
      grüße, L

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  2. Gern gelesen :-) Danke für den Bericht.

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  3. Wieder mal ein Klasse Bericht und beeindruckend wie Du solche Rennen durchziehst.
    Wollte mal fragen, was Du während der Tour mit deinen Klamotten machst? Langes Trikot und Co werden ja nur morgens benötigt - wohin damit, wenns warm wird oder habt ihr einen Mannschaftswagen dabei?
    Gruß

    André

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    1. hi andré.

      danke für den kommentar & das lob.

      das langarm-trikot wird zusammengefalten hinten in eine der trikottaschen gestopft. das passt genau hin.

      viele grüße & ride safe,
      L

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  4. Geiler Bericht. Total authentisch. Man denkt man fährt selbst mit.

    Gruß

    STAR

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  5. Schöner Bericht, Ralf!

    Wenn du willst, kannst du hier meine Erlebnisse vom selben Rennen nachlesen:

    http://fitfortrails.blogspot.ch/2013/05/rennbericht-granfondo-nove-colli.html

    Gruss
    Uwe

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